Das Wohnprogramm als Bildungsprogramm

Theo Ligthart 2000







... täglich vernimmt man das Klagelied, dass man heute nur noch selten Zeichen wahrer Bildung begegnet. Vor allem soll das Fernsehen die Eckpfeiler der traditionellen Bildung zum Einsturz gebracht haben. Weder die Klassiker der Weltliteratur noch das Museum stehen heute hoch im Kurs ...

Anhänger dieser Medienkritik finden Bestätigung bei Autoren, die sich im Dienste der Rettung der Bildung gestellt haben. Wie z.B. Dietrich Schwanitz, Verfasser eines Buches mit dem Titel Bildung, der uns vor den Gefahren des TV-Konsums im kindlichen Alter warnt: „Bevor ein Kind liest sieht es fern. Das schafft ein Problem, denn die Bildung hängt immer noch an den Büchern oder zumindest an den Texten auf dem Bildschirm, und das heißt an Schrift.“ Oder Neil Postman, der ebenfalls den Verlust der Sprache (Literatur) und die Übermacht der Bilder (Fernsehen) beklagt und davon träumt, einen Fernseher zur Beleuchtung einer Buchseite zu benützen. Er diagnostiziert: „Während es in der Schule hauptsächlich um die Sprachentwicklung geht, verlangt das Fernsehen Aufmerksamkeit für Bilder. (...) Wir haben es heute mit dem raschen Zerfall der Grundlagen einer Bildung, in deren Mittelpunkt das langsame gedruckte Wort stand.“ Bildungskritik ist immer auch Medienkritik. Ein Medium wird gegen ein anderes Medium in Konkurrenz gestellt. Neil Postman beklagt weiters die Verknüpfung von Erziehung bzw. Unterricht und Unterhaltung und verurteilt die Medien, die auf die Zufriedenheit und nicht auf die Entwicklung bzw. Bildung seiner Rezipienten ausgerichtet sind. Ein Autor eines weiteren Buches mit dem Titel Bildung, Hartmut von Hentig, glaubt die fatalen Folgen der gegenwärtigen Entwicklung unserer medialen Gesellschaft und der technisch operationalisierten Bildung benennen zu können: „Die Kinder und vor allem die Jugendlichen beteiligen sich nicht mehr am pädagogischen Prozeß. Die Folgen sind vielfältig: Hoyerswerda und Chaostage, Drogen und Eintauchen in die PC-Welt, Technomusik und Abkehr von jeglicher Politik, ein charmanter Individualismus und Toleranz aus Gleichgültigkeit. (...) Und die neuen Medien helfen bei der Routinisierung, Banalisierung, Entpersönlichung kräftig mit.“

Die selbsternannten Retter der Bildung sind sich in einem Punkt einig: die neuen audiovisuellen Medien stellen eine Gefahr für die Bildung dar. Und diese Gefahr, so die Bildungsapokalyptiker, wird zur Bedrohung für Gesellschaft, Menschheit oder Abendland.

Die verloren geglaubten Symbole der Bildung, die durch die Omnipräsenz der Medien verdrängt wurden, sind aber in den privaten Lebensräume auffindbar. Nur jene Institutionen, die - an der Schnittstelle zum Privaten - uns Einblick in mögliche individuelle Lebensräume gewähren, deuten an, dass die symbolischen Grundlagen jeder Allgemeinbildung nicht gänzlich vergessen wurden. Orte, die den Bildungsapokalyptikern und Abendlandrettern einen hoffnungsvollen Blick in die Bildungswünsche der Bevölkerung gewähren könnten, sind kommerzielle Unternehmungen, die man vielfach an den Peripherien unserer Städte vorfindet. Es sind die - meistens gigantisch dimensionierten - Möbelhäuser. Auf diesen Marktplätzen der Sehnsüchte nach privatem Nestbau findet man die letzten Ikonen des klassischen Bildungsideals. In der einfacheren Ausführung werden diese Bildungssymbole als "Wandverbau", „Einrichtungsystem“ oder „Wohnwand“ bezeichnet, in der komplexeren Variante spricht man von „Wohnprogramm“. Und diese Bezeichnung scheint hier zutreffend, denn kaum ein Objekt unserer industriell gefertigten Lebenswelt ist programmatischer.

Die programmatische Ausrichtung des „Wohnprogramms“ wird vorerst durch den Stil dieses Einbaumöbels definiert. Politische Weltanschauungen und soziale Lebensformen, die zwischen progressiv und konservativ, modern-urban und traditionell-rustikal anzusiedeln sind, finden ihr Äquivalent und gleichzeitig ihre Vereinigung in den Gestaltungsformen dieses weitverbreiteten Möbels. Weder hat man es mit einem ausschließlich dekorativen oder einem schmucklosen aber funktionalen Einrichtungsgegenstand zu tun, sondern die Kataloge verraten uns die Absicht - hier werden komplexe Zusammenhänge zu einem qualitätvollen Gesamtkunstwerk zu verschmolzen: „Das Ziel ist, Ökonomie und Ökologie in ästhetisch anspruchsvollen Qualitätsprodukten zu vereinen.“

Gegensätzliches stößt sich in der Welt des „Wohnprogrammes“ nicht ab, sondern Oppositionen heben sich in einer geglückten Einheit auf. Vorindustrielle Ruhe und dynamische Modernität, wechselhafte Mode und dauerhafte Qualität, ländlicher Stil und städtische Atmosphäre sind keine Widersprüche, denn sie werden durch das „Wohnprogramm“ programmatisch in harmonischen Einklang gebracht: „Mit der Zeit gehen - Akzente setzen, sich für Qualität entscheiden, Ruhe finden in ästhetischer Atmosphäre.“ „Topmodisches Wohnprogramm in massiver Buchenfront.“ Die „Collection <Rusticana>“ im „romantischen Landhausstil“ verspricht eine „Mischung aus formaler Bescheidenheit und südlicher Nonchalance“, wodurch <Rusticana> ein „Wohlfühlen im stadtfeinen Landhausstil“ ermöglicht. Wenn Sie sich „auf der Suche nach Ursprünglichkeit“ begeben, dann „stoßen Sie auf <Tirol>. Der Wohnraum wird zur Idylle. Denn die Collection <Tirol> macht das Leben noch ein bißchen lebenswerter.“

Das „Wohnprogramm“ ist ein Möbelstück jenseits der Radikalität von Ideologien. Als Aufklärungsprogramm ist das „Wohnprogramm“ zu verstehen, denn Toleranz, soziale Ausgewogenheit und Verständigung zwischen verschiedenen Weltanschauungen werden in diesem Möbel stilistisch veranschaulicht. Das Einbaumöbel wird somit zum Sinnbild des humanistischen Zivilisationsprogramm und im Zuge dessen bildet es seine Benützer bzw. Besitzer.

Während jene zeitgenössischen Autoren, die die Bildung als bedrohtes Gut betrachten, vor allem das Fernsehen als größten Feind von Bildungsbestrebungen verurteilen, erkennen sie im geschriebenen Wort den Königsweg zur wahren Bildung. Und da ein einziges Wort zur Bildung einer einzelnen Person nicht ausreicht, ist es das Buch, das zur Keimzelle der Bildung erhoben wird. Weil aber Bildung möglichst umfangreich und vielseitig sein soll, gilt die Liebe der Bildungsverliebten nicht einem Buch, sondern den Büchern. Eine Auswahl von Büchern soll den Zubildenden zur Bildung verhelfen.

Eine bestimmte Sammlung bzw. ein gewisses Ordnungssystem von Büchern bezeichnet man als Bibliothek. Die Bibliothek, die den Bildungsbestrebungen dienen soll, muß aus möglichst alten und gelesenen Büchern bestehen, damit der Besucher die Bibliothek als funktionales Werkzeug und nicht als dekoratives Schmuckstück erkennt.

Das bekannteste Möbel einer Bibliothek ist der Bücherschrank bzw. das Buchregal. Das „Wohnprogramm“ greift auf diese Idee zurück. Und in der Erscheinung als Einbaumöbel stellt sich das „Wohnprogramm“ in die Tradition klösterlicher Bücherarchive. Nicht die dunkeln Tiefenspeicher einer zeitgenössischen, weltlichen Bibliothek, sondern der barocke Überfluß an Bildungsmedien einer Klosterbibliothek wird hier zitiert. Die Verschmelzung von Architektur und Bücherregal ist auch die Grundidee eines so genannten „Wohnprogramms“.







Neben der Bibliothek wird eine weitere Institution der Bildung im „Wohnprogramm“ zitiert: Das Museum. Auch wenn das Museum als Sammlung von Bildern für die Bildung weniger hoch bewertet wird, so gilt die Betrachtung von Kunst gemeinhin als wichtig für die Formung eines Charakters. Im Museum, so Schwanitz, übt man die Sprachlosigkeit der kontemplativen Rezeption.[1] Neben den Bildern, die das Museum meistens dominieren, findet man auch Gegenstände, die erst aufgrund ihrer historischen oder handwerklichen Bedeutung ausgestellt werden und durch den musealen Kontext ihrer bisherigen Funktionalität entledigt werden. Diese Objekte kommen zumeist in Vitrinen zur Ausstellung.

Die Vitrine ist somit - neben den Bücherschrank - ein weiteres Möbel, das eng mit einer Bildungsinstitution verknüpft ist und vom „Wohnprogramm“ zitiert wird. Die Gegenstände, die der Besitzer in seinen Vitrinen plaziert, werden zu Museumsobjekte aufgewertet. Es sind meistens Souvenirs, die man von Reisen mitgebracht hat und die, obwohl es sich häufig um industriell gefertigte Ware einer Massenproduktion handelt, das Wohnzimmer zur ethnographischen Sammlung verwandeln. Der Besitzer bekundet durch diese Sammlung sein Interesse für fremde Völker und Sitten und gibt sich dadurch als Kosmopolit zu erkennen. Das museale Prinzip vereinigt sich hier kongenial mit der Idee der Bildungsreise.

Hin und wieder sind es aber auch Basteleien von Kindern oder Enkelkindern, die in den Vitrinen des „Wohnprogramms“ ausgestellt werden. Hier wird - neben der sentimentalen Beziehung zum Objekt - die angebliche Phantasie und Kreativität des Kindes hervorgehoben. Diese ausgestellten Zeugnisse einer Begabung sollen auf ein kindliches Talent verweisen. Jenes unbefleckte Talent, das durch Bildung in weiterer Folge angeblich verloren geht. Der Ursprung dieser Begabung verweist im Rahmen einer Genealogie auf den Besitzer des „Wohnprogramms“. Die Eltern als Schöpfer dieser talentierten Kinder werden somit indirekt gewürdigt.

Die Vitrine ist auch ein beliebter Abstellplatz für kleine persönliche Erinnerungsstücke und Geschenke. Nippes bekommen im Rahmen des verglasten Heimmuseums eine neue Bedeutung. Die Biographie des „Wohnprogramm“-Besitzers wird bedeutungsvoll, denn jedes noch so bedeutungslose Objekt seiner Sammlung wirkt im Kontext der Musealisierung bedeutungsvoll. Der Gegenstand in der Vitrine wird zugleich ausgestellt und weggestellt, denn er entzieht sich der Aufmerksamkeit des Staubwischens und somit nahezu jeder zukünftigen Wahrnehmung.

Im Museum hat die Vitrine die vornehmliche Aufgabe die Objekte vor den Zugriffen der Besucher schützen. Die Funktion der Vitrine im privaten Museum des „Wohnprogramms“ ist dieser Aufgabe diametral entgegengesetzt: Da selten auf die Gegenstände, die sich in der Vitrine des „Wohnprogramms“  befinden, zugegriffen wird, schützt sie diese vor allem vor Verschmutzung. Das Porzellan, welches nur verwendet wird, wenn Gäste kommen und die Vasen, die nur herausgenommen werden, wenn ein Gast Blumen mitbringt, verweilen an ihrem gläsernen Ausstellungsort. Sauber - weil vor Staub geschützt - sind es Zeichen einer Gastfreundschaft, die sich in gastfreundlicher Dauerbereitschaft befinden. Die Objekte einer gepflegten Tischkultur, die hinter den Glaswänden der „Wohnprogramm“-Vitrine auf ihren Einsatz warten, sind Bühnenbild und Requisiten für eine idealtypische Bühne, auf der die gebildete Konversation einer kultivierten Gastfreundschaft aufgeführt werden könnte. Daher verweist die Vitrine ebenso auf die Tradition des Museums wie auch auf die Sehnsucht nach einer höfischen Tischkultur und einer aristokratisch gebildeten Konversation. Castigliones "Hofmann"[2] soll hier demokratisiert werden.

Bei genauerer Analyse erweist sich das kleinbürgerliche „Wohnprogramm“ als designte Materialisierung jener lamentierenden Theorien von den Rettern des Abendlandes. So ist auch das "Wohnprogramm" gegenüber dem Medium Fernsehen kaum aufgeschlossen. Das TV-Gerät wird meistens hinter Schranktüren verschlossen und als Zentrum aller begehrlichen Blicke schamhaft versteckt. Es darf sich nicht zeigen, auch wenn es der Gegenstand ist, dem die Bewohner alle Aufmerksamkeit widmen. Diese Schamhaftigkeit steigert die Bedeutung des Fernsehers ins religiöse. Verschlossen entspricht der TV-Schrank einem Tabernakel und im geöffneten Zustand wird dieser Schrein zum Flügelaltar. Das Öffnen der Schranktüren kommt der Aussetzung des Allerheiligsten gleich. Die komplexe kulturelle Inszenierung des "Wohnprogramms" erweist sich als Verneinung und gleichzeitige Huldigung des Fernsehkults. Der Fernseher wird im "Wohnprogramm" zur Wiederkehr des Verdrängten. Ebenso verhält es sich mit den Bücherregalen des Wohnprogramms. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass die goldgeprägten Ledereinbände nicht das Wissen der Dichter und Denker beinhalten, sondern Hüllen für Videokassetten sind.

Die Klage über den Verlust der Bildung hat aus der Sicht der Klagenden vielleicht nicht zum gewünschten Ergebnis geführt - aber eine wesentliche Kulturleistung ist diesen Autoren zu verdanken: Sie sind die wahren Konzeptionisten des "Wohnprogramms". Durch ihre dauerhaften Mahnungen findet man in vielen Wohnungen der Trabantenstädte ein Einbaumöbel, welches das Gewissen der Bildung verbildlicht. Das "Wohnprogramm" ist die gelungene Materialisierung traditioneller Bildungsideale und Medienkritik.







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